
„Gemeinsam statt einsam!“
Demografischer Wandel im ländlichen Raum – Kirchlinteln geht in die Initiative
Neuerdings braucht man eine Lesebrille, die Knie wollen auch nicht mehr so – und früher verging die Zeit doch irgendwie langsamer, oder? Das Thema Alter und Altern betrifft uns alle. Man kann es verdrängen, aber nicht davor weglaufen, schon gar nicht, wenn dabei die eben erwähnten Knie nicht mitmachen. Im ländlichen Raum ist das Thema besonders präsent. Wo und wie möchte ich leben? Muss ich den Wohnraum umgestalten? Was mache ich, wenn ich nicht mehr mobil bin? Und wie ist es eigentlich mit der Infrastruktur?
In Kirchlinteln steht das Thema weit oben auf der Prioritätenliste. Die Kernfragestellung: Wie schafft man lebenswerte Bedingungen für ältere Menschen in der Region. Arne Jacobs, Bürgermeister der Gemeinde Kirchlinteln, und seine Kollegin Petra Lindhorst-Koester, sprechen mit uns über Herausforderungen, Visionen und Handlungsstrategien.
Der demographische Wandel ist längst da
Die Faktenlage in Kirchlinteln ist eindeutig: Im Jahr 2025 sind ein Drittel aller BürgerInnen in der Gemeinde 60 Jahre alt oder älter. In den nächsten Jahren werden 800 Menschen das 65. Lebensjahr erreichen oder überschreiten, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass ebenso viele Kinder geboren werden. „Das ist der demographische Wandel, der kommt hier auf den Dörfern an, es macht sich bemerkbar. Das sind Dinge, mit denen wir arbeiten müssen“, so Jacobs.
Die Veränderungen sind bereits sichtbar: Die Menschen leben zunehmend in Single-Haushalten. Wenn der Partner oder die Partnerin verstirbt, bleibt eine Person alleine zurück, und mit zunehmendem Alter steigt der Bedarf an Unterstützung. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass Menschen aus ihrem Heimatort wegziehen, häufig (auch) aus beruflichen Gründen. Während es früher noch üblich war, dass mehrere Generationen am gleichen Ort wohnten – nicht unbedingt im gleichen Haus, aber dennoch im sozialen Nahraum – ist das heute oft anders. „Dieser informelle, innerfamiliäre Generationenvertrag funktioniert nicht mehr“, so Jacobs. Die Menschen sind also zunehmend auf externe Versorgungsangebote angewiesen. Diese Strukturen wachsen aber nicht automatisch mit. Hier kommt nun die Gemeinde ins Spiel und hier sieht Jacobs diese auch in der Pflicht: „Wir haben in Kirchlinteln noch gute zehn Jahre Zeit, um Strukturen zu schaffen, damit wir diese Situation stemmen können. Und deshalb gehen wir es an. Jetzt.“
Befragung: Wo stehen wir, was wollen wir, was braucht es dafür?
Damit man es angehen kann, muss man natürlich erst einmal den Ist-Zustand zu kennen und sich einen Überblick verschaffen: Wo gibt es Bedarf und was wollen die Leute überhaupt? „Wir machen das für die Menschen“, so Jacobs. „Die tollsten Ideen und Konzepte funktionieren nicht, wenn man die Leute nicht abholt.“ In der Praxis sah das so aus: Es gab eine Befragung aller BürgerInnen, die über 60 Jahre alt sind. „Natürlich auf freiwilliger Basis“, betont Jacobs, „aber die Beteiligung war enorm hoch.“
Dabei haben sich drei Themenkomplexe herauskristallisiert:
1. „Mobilität“
2. „Gemeinsam statt einsam“
3. „Gut versorgt“
50 Prozent der Befragten gaben an, dass der Erhalt der eigenen Selbstständigkeit ganz oben auf der Wunschliste steht, ebenso gaben 50 Prozent an, sich zumindest gelegentlich einsam zu fühlen. Ein weiteres Thema war, dass die Leute sich gut vorstellen können, sich mehr in der Gemeinde einzubringen.
Mobilität, Gesundheit, Essen „ohne Räder“
Mobilität – ein großes Thema, denn hier merken die Menschen die eigenen Einschränkungen sehr direkt. In urbanen Gebieten steigt man in die Bahn, auch ein Taxi ist schnell gerufen. Im ländlichen Raum ist das nicht ganz einfach: Wer selbst nicht mehr Auto fahren kann oder will, braucht Alternativen. Der Bürgerbus fährt in der Region regelmäßig. Aber: „Jemand muss ihn fahren“, so Jacobs. Erreichbarkeit von ÄrztInnen, Apotheken, Einkaufsmöglichkeiten : Die muss es geben, um die Menschen weiterhin so eigenständig wie möglich zu halten. „Die Angebote müssen auch erst mal da sein“, so Jacobs.
Kirchlinteln ist aktiv: Derzeit ist der Bau eines Ärtzehauses in Planung. Das bedeutet zwar nicht, dass sich nun verschiedene FachärztInnen vor Ort niederlassen werden, aber die aktuellen Angebote werden erweitert und die Anzahl der ÄrztInnen auf insgesamt vier aufgestockt. Der Bedarf nach Physiotherapie und der Wunsch nach einer Tagespflegeeinrichtung zeichnete sich bei der Befragung ebenfalls ab. „Das ist jetzt unsere Aufgabe als Gemeinde“, so Jacobs. „Bedingungen zu schaffen, damit das realisiert werden kann.“ Mit dem Landhaus Luttum (siehe Seite xx) ist in Sachen Tagespflege ein erster wichtiger Schritt getan.
Das Ärztehaus wird nicht von der Gemeinde finanziert. „Das könnten wir auch gar nicht“, räumt Jacobs ein. Hier kommt ein Investor ins Spiel. „Aber wir als Gemeinde müssen es anstoßen und auch praktisch auf dem Weg bringen.“
Unter „Gut versorgt“ fallen Themenbereiche wie: Besonderer Mittagstisch in der Gastronomie. Gibt es die Option, vor Ort ein spezielles Mittagsangebot für SeniorInnen anzubieten? „Sowas wie Essen auf Rädern“, so Lindhorst-Koester, „nur ohne Räder.“ Auch die Dorfläden spielen hier eine große Rolle, dadurch wird eine niedrigschwellige Versorgung gewährleistet „damit man nicht für zwei Äpfel und ein Stück Butter bis nach Verden fahren muss“, so Lindhorst-Koester. Auch die Apotheke in Kirchlinteln sticht durch ein umfassendes Angebot hervor: Hier gibt es nicht nur Medikamente auf Rezept und einen Bringdienst, sondern auch spezielle Angebote, wie zum Beispiel Unterstützung beim Anlegen von Stützstümpfen und dergleichen. Auch hier ist das Ziel: „Die Wege kurz halten“, so Lindhorst-Koester.
Janika Rehak