Im Gespräch mit Arne Jacobs und Petra Lindhorst-Köster

Kirchlinteln auf den Punkt gebracht? „Wir sind bodenständig und unaufgeregt“, so Jacobs. Ein einziger Satz ist ihm dann aber doch zu wenig, um seine Gemeinde zusammen zu fassen: „Wir haben eine hohe Lebensqualität. Wir haben hier viele anpackende Menschen. Es gibt einen guten Zusammenhalt. Wir haben weitsichtige Unternehmen, die Chancen sehen und ergreifen.“ Auch die Lage im Städtedreieck Bremen-Hamburg- Hannover sei eine enorme Ressource. Fazit – und amEnde doch Kirchlinteln in einem Satz: „Wir sindein guter Ort zum Leben.“

In der Gemeinde Kirchlinteln leben knapp 11.000 Menschen, verteilt auf 17 Ortschaften. Die Gebietsreform vor 50 Jahren legte diese Struktur auf der Karte fest. „Manchmal merkt man das heute noch“, so Jacobs. Es ist kein Nebeneinander, aber ein Anpacken auf Handlungsebene. „Man kennt sich und man regelt die Dinge. Man läuft nicht mit allen gleich zur Gemeinde – man kümmert sich erst einmal selbst.“ Jacobs findet diese Hands-On-Mentalität erst mal gut. „Es zeigt einfach: Man kann Zusammenhalt nicht herstellen, indem man auf der Karte Grenzen festlegt. Wir wachsen zusammen, immer noch. Es ist immer noch ein Prozess.“ Und das Prozesshafte, so Jacobs, halte Dinge lebendig und in Bewegung.


Kirchlinteln zum Leben und Arbeiten

In Bewegung ist Kirchlinteln definitiv und im Rathaus wird viel daran gesetzt, die Gemeinde für die Zukunft fit zu machen. So wird der Ausbau des Breitbandinternets aktiv voran getrieben. „Home-Office ist ein super Sache“, so Jacobs. „Aber nur, wenn die Verbindung stabil bleibt.“


„Wir haben eine hohe Lebensqualität. Wir haben hier viele anpackende Menschen. Es gibt einen guten Zusammenhalt.
Wir haben weitsichtige Unternehmen, die Chancen sehen und ergreifen.“

Arne Jacobs


Betreuungsangebote für Kinder sind eine weitere Säule, die den Ort für Familien attraktiv machen soll. Wenn beide Elternteile berufstätig sind, ist das keine Verhandlungssache, sondern Voraussetzung. Kirchlinteln ist gut aufgestellt mit insgesamt 7 Kitas, darunter einer Waldkita und einem umfassenden Angebot an Tagesmüttern. Zwei Grundschulen sowie die Oberschule bieten Ganztagsunterricht an – auf flexibler, freiwilliger Basis. Auch der Übergang von Schule und Beruf liegt der Gemeinde sehr am Herzen. Jedes Jahr im Frühling findet an der Oberschule eine Berufsmesse statt. Hier stellen sich die Betriebe vor Ort vor, geben Einblicke in die Tätigkeitsfelder und beantworten Fragen aus der Praxis. „Das funktioniert großartig“, so Jacobs. Auf diese Weise ergeben sich Praktika und auch Ausbildungsmöglichkeiten. Ein Win-Win für alle.

In Sachen Einkaufsmöglichkeiten legt die Gemeinde Wert auf kurze Wege. Supermärkte vor Ort sparen Zeit und Benzin. Dorfläden ergänzen das Angebot – mit regionalen Erzeugnissen und einem eigenen Flair. Und auch damit man nicht noch mal bis in die Stadt fahren muss, weil man eine Tüte Milch vergessen hat.


Unternehmen – verwurzelt und verbunden

In der Gemeinde Kirchlinteln sind vor allem mittelständische Unternehmen vertreten, der Schwerpunkt liegt auf dem Handwerk, der größte Arbeitgeber mit etwa 100 Beschäftigten ist Fahrzeugbau Heinz Schutz in Brunsbrock. Es sind gewachsene Betriebe, meist über mehrere Generationen hinweg und oft noch inhabergeführt. Das sei ein großer Vorteil, so Jacobs, daher fühlen sich die Firmen der Region verbunden, sowohl als Arbeitgeber als auch darüber hinaus. Da wird schon mal ein Satz neue Sportkleidung gesponsert oder bei der Reparaturarbeiten eines Vereinsheims mit angepackt.

Fachkräftemangel – ein Wort in aller Munde. Viele Unternehmen, insbesondere in ländlicher Region, klagen über Nachwuchsprobleme. Demnächst geht mit den sogenannten Boomern eine ganze Generation Arbeitnehmender in Rente. Jacobs ist sich der grundsätzlichen Problematik bewusst, beobachtet in Kirchlinteln aber einen etwas anderen Trend: Durch die Berufsmesse fühlen sich die jungen Leute informiert und wissen, was auf sie zukommt. So gehen die Unternehmen ihren Nachwuchsbedarf aktiv an. Und noch eines fällt auf: Viele junge, gut ausgebildete Menschen, die Kirchlinteln verlassen haben, zwecks Ausbildung oder um einfach mal etwas anderes zu sehen, kommen in die Region zurück, um sich dauerhaft niederzulassen. Bei der Vergabe von Bauland werden junge Familien explizit mitgedacht.

 

Von Kirchlinteln an die Nordsee – oder einfach Digital Detox

Tourismus in Kirchlinteln? „Aber ja“, so Fachfrau Lindhorst-Köster. Die Menschen kommen aus allen Regionen, vor allem aus den Neuen Bundesländern und dem Rheinland, auch aus Bayern und Baden-Württemberg. „Manche wollen tatsächlich komplette Ruhe haben, wollen eine Woche nur Wild beobachten und lassen sogar das Handy zu Hause. Einfach mal Detox“, so Lindhorst-Köster. Andere hingegen nehmen Kirchlinteln als Basis für Tagesausflüge, zum Beispiel an die Nordsee oder in die Lüneburger Heide oder nach Hamburg. Verden mit seiner attraktiven Innenstadt und dem Pferdemuseum ist ebenfalls ein beliebtes Ziel, genau wie eine Tour zur Fähre in Otersen. Weitere Anlaufstellen sind außerdem der Waldspielplatz und der Spielplatz „Moorkieker“, beide sind auch überregional bekannt.

Die Gäste sind meist Familien mit Kindern oder Best Ager, die sich ein Rad mieten und die Umgebung erkunden, die Hügelgräberheide liegt direkt nebenan. Wer Kultur sucht, wird beim Müllerhaus fündig, auch im Linteler Krug finden regelmäßig Lesungen oder Konzerte statt. Viele kommen gern wieder, weiß Lindhorst-Köster, „wir haben hier unglaublich viele Stammgäste.“

Was ist es, was die Menschen an der Region anzieht? „Dass man hier beides machen kann“, glaubt Lindhorst-Köster. „Man kann Ausflüge planen oder am Urlaubsort verbleiben. Man kann sich im Umland Action suchen – oder sich gezielt eine Woche lang auf die Terrasse setzen.“ Jacobs ergänzt eine Rückmeldung, die sie immer wieder von Urlaubsgästen bekommen: „Die Weite. Dass man einfach kilometerweit übers Flachland gucken kann. Weit – und sauber. Ich denke, das zeichnet uns aus.“

 

Bahnanbindung? Beschlossene Sache

Das Städtedreieck Bremen-Hamburg-Hannover kommt nicht nur dem Tourismus zugute, sondern auch der Situation der Arbeitnehmenden. „Wir haben wir eine hohe Auspendlerquote“, so Jacobs, „und zwei Autobahnauffahrten.“ Die A1, A7 und A 27 – alles erreichbare Distanzen. Man ist in einer guten Stunde in Hannover, nach Bremen geht es noch deutlich schneller. Nun fährt nicht jeder gern viel mit dem Auto und auch für die Umwelt ist das nicht die beste Option. Manche Menschen trauern auch aus reiner Nostalgie den Zeiten nach, als Kirchlinteln noch ans Schienennetz angeschlossen war. Aber: Der Ort rüstet auf. Die Bahnstrecke wird reaktiviert. 2026 soll die neue Haltestelle offiziell an den Start gehen. Dann fahren Regionalzüge im Stundentakt direkt zum Bremer Hauptbahnhof. Wie reagiert die Bevölkerung auf diese Aussicht? „Wir hören nur positive Resonanz“, so Jacobs.


Rübenmarkt oder „Sprechen Sie platt?“

In der ländlichen Region wird das Jahr auch von Festivitäten strukturiert. „Das Schützenwesen wird hoch gehalten“, so Jacobs. Schützenfeste und Erntefeste verzeichnen regen Zulauf, hier hat jede Ortschaft ihren eigenen Verein mit eigenem Profil. Kirchlinteln richtet auch einen Weihnachtsmarkt aus: „Advent in St. Petri“. Ein Alleinstellungsmerkmal ist der Rübenmarkt, der jedes Jahr Ende September stattfindet. Absolutes Highlight? Das traditionelle Rübenmarktfrühstück mit Programm – natürlich auf Platt, was auch sonst?

 

„Die Weite. Dass man einfach kilometerweit übers Flachland gucken kann. Weit – und Sauber. Ich denke, das zeichnet uns aus.“

Arne Jacobs

 

International unbürokratisch

Solidarität? Zupacken? „Können wir in Kirchlinteln“, so Jacobs. So wird zum Beispiel seit 2022 Hilfeim Ukraine-Krieg geleistet, ganz konkret in der Gemeinde Tlumacz. Wo ist Bedarf, was brauchen die Menschen? In Tlumacz sind durch die Zerstörung das Wasserwerk und die Stromversorgung betroffen – also wurde ein Stromaggregat dorthin geschickt, welches die Versorgung auf Zeit wiederherstellen kann. Eine offizielle Städtepartnerschaft gibt es mit Tlumacz (noch) nicht. „Das ist“, so Jacobs, „einfach ein Zeichen von zwischenmenschlicher Hilfe.“

Zudem gibt es eine lebendige Partnerschaft mit der tschechischen Stadt   Letovice / Mikroregion Letovicko. Diese besteht seit über 20 Jahren. Man besucht sich regelmäßig und ist im regen Austausch. In Kirchlinteln geht es über das Offizielle hinaus: Der Verein „Freunde von Letovicko“ sorgt dafür, dass der Austausch regelmäßig bleibt. „Wie eng man mit so einer Partnergemeinde verbunden ist, steht und fällt auch mit den jeweiligen Menschen im Bürgermeisteramt“, weiß Jacobs aus Erfahrung. „Manche haben da Lust drauf, andere finden es nicht so wichtig.“ Der Verein macht diesen Teil nicht obsolet – aber unabhängiger, auch weil tschechische Muttersprachler in Kirchlinteln leben und gern einspringen. So muss man nicht immer auf Übersetzende zurückgreifen oder sich mit Englisch behelfen. Ein Beispiel für den Austausch: Als in Letovicko der Tag der Befreiung gefeiert wurde, war eine Delegation aus Kirchlinteln eingeladen und hat an den Feierlichkeiten teilgenommen. „Das war sehr eindrucksvoll“, so Jacobs, „und wir nehmend das nicht als selbstverständlich hin.“ Für 2025 gibt es eine Gegeneinladung an Letovice, zum Thema Feuerwehr in den Ortschaften. Solche Aktionen findet Jacobs wichtig – für die Menschen, für Freundschaften über Grenzen hinweg, letztlich stärke das den Zusammenhalt in Europa.

 

Die Zukunft? Herausforderung angenommen!

Welche Herausforderungen sieht Jacobs für die Zukunft? „Der Gemeinde geht es gut. Das möchte ich an dieser Stelle einfach mal festhalten“, sagt Jacobs und lacht. „Aber klar, es gibt Dinge, um die müssen wir uns kümmern.“

Da ist zum einen der demographische Wandel. Das ist längst keine trockene Theorie mehr, sondern in den Dörfern angekommen. Bereits jetzt sind etwa ein Drittel der Menschen sechzig Jahr alt oder älter. „Das ist definitiv ein Thema“, so Jacobs. Es stellen sich Fragen nach Mobilität, Versorgung mit medizinischem Personal, Einkaufsmöglichkeiten. Hier muss die entsprechende Infrastruktur geschaffen werden. Aber: Kirchlinteln ist vorbereitet. Eine (freiwillige!) Befragung aller Menschen über 60 Jahre ist bereits abgeschlossen und ausgewertet. Das wird jetzt aktiv angegangen. „Wir haben noch 10 Jahre Zeit, uns auf diese Situation einzustellen“, so Jacobs. „Das müssen wir angehen und das werden wir angehen. Jetzt.“ (Siehe dazu auch: Text zum Thema
Alter)

Auch die Erschließung neuer Gewerbeflächen sind ein Thema. De facto gibt es in Kirchlinteln derzeit keine weiteren Quadratmeter, die die dafür vorgesehen sind. Damit können sich keine neuen Unternehmen ansiedeln. Auch – und das ist derzeit ein viel größerer Punkt – die vorhandenen Unternehmen können nicht expandieren. „Da müssen wir ran“, so Jacobs und betont, dass er dabei vor allem Wachstumschancen der lokalen Firmen im Blick hat und keinen Unternehmensriesen von extern heranholen möchte. „Ich sehe bei uns kein Amazon-Lager.“

Visionen? Die gibt es absolut. „Wenn ich einen Wunsch frei hätte“, so Lindhorst-Köster, „dann möchte ich, dass Kirchlinteln im aktuellen Zeitgeist bestehen kann.“ Es gehe nicht darum, modern zu „werden“ – das ist die Gemeinde ihrer Ansicht nach durchaus – sondern darum, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Dazu gehören zum Beispiel eine Kultur-Gastronomie oder ein Co-Working-Space. „Ich habe da ganz viele Ideen“, so Lindhorst-Köster und lacht.

Einsparungen werden ebenfalls in der Zukunft vorgenommen werden müssen. „Es geht da nicht um simples Wegrationalisieren“, betont Jacobs, „sondern um ein sinnvolles Zusammenlegen von Ressourcen. Um die Frage: Wo investiert man am besten?“ Natürlich möchten alle erst mal das erhalten was ihnen persönlich am wichtigsten ist. Jacobs hat aber die Erfahrung gemacht: „Wenn man transparent ist, wenn man es den Menschen gut erklärt und die Infos auf den Tisch legt, dann ziehen meistens doch alle mit.“

Die größte Ressource sieht Jacobs im Mindset der Menschen. „Wir wollen den Zusammenhalt erhalten und weiter stärken. Dafür sorgen, dass das, was und Probleme bereitet, uns nicht auseinander bringt. Dass wir miteinander im Kontakt und weiterhin im Dialog sind – oder wieder mehr in den Dialog kommen.“ Da sieht Jacobs auch jede Einzelperson in der Pflicht. Er blickt optimistisch in die Zukunft: „Denn das ist es, was Kirchlinteln ausmacht. Die Menschen. Und an die glaube ich. Ganz fest.“

 

„Denn das ist es, was Kirchlinteln ausmacht. Die Menschen. Und an die glaube ich. Ganz fest.“

Arne Jacobs


Janika Rehak